Tschechoslowakische Republik: Zentralismus und Nationalitätenprobleme in der ČSR

Tschechoslowakische Republik: Zentralismus und Nationalitätenprobleme in der ČSR
Tschechoslowakische Republik: Zentralismus und Nationalitätenprobleme in der ČSR
 
Die tschechoslowakische Erste Republik war eine Staatsschöpfung, die am Ausgang des Ersten Weltkrieges auf den Trümmern der Habsburgermonarchie entstanden war. Mehr als ein Jahrtausend waren die beiden Titularnationen der Tschechen und der Slowaken in unterschiedliche politische Herrschaftsbildungen eingebunden. Auch in ihrer kirchlich-religiösen Orientierung entwickelten sie abweichende Traditionen. Böhmen wuchs seit dem Hochmittelalter als Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eng mit dem deutschen Sprach- und Kulturraum zusammen. Die Slowaken dagegen waren seit der Landnahme der Magyaren in Pannonien Untertanen der ungarischen Könige. Der historische Name des von ihnen bewohnten Gebietes war bis 1918 »Oberungarn«.
 
 Ein gemeinsamer Staat für Tschechen und Slowaken
 
Die Idee eines gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken reifte während des Ersten Weltkriegs in der westlichen Emigration heran. Die Tschechen waren enttäuscht über die jahrzehntelangen erfolglosen Ausgleichsbemühungen innerhalb der tschechisch-deutschen »Konfliktgemeinschaft« in den böhmischen Ländern und über den sich verschärfenden Nationalitätenkampf und Sprachenstreit. Noch bevor die leitenden Staatsmänner der Entente im Frühjahr 1918 ihre Nachkriegsplanungen auf eine Zerschlagung des Habsburgerreiches umstellten, begann der einflussreiche Tomáš Garrigue Masaryk in den westlichen Hauptstädten eine erfolgreiche Kampagne für die Eigenständigkeit der kleinen Völker in einem »neuen Europa«. Schon am 14. November 1915 verkündete er in Paris ein Manifest zur Gründung des selbstständigen tschechoslowakischen Staates. 1916 rief er mit Billigung der französischen Regierung in Paris gemeinsam mit dem Slowaken Milan Štefánik einen tschechoslowakischen Nationalrat ins Leben. In dem Generalsekretär Edvard Beneš fand er einen rührigen Mitstreiter.
 
Beneš ließ am 14. Oktober 1918 die Bildung einer Provisorischen Regierung in Paris unter der Präsidentschaft Masaryks bekannt geben. Im Land selbst rief der im Juni 1918 neu gegründete tschechoslowakische Nationalausschuss am 28. Oktober 1918 die tschechoslowakische Republik aus. Eine Provisorische Nationalversammlung bestätigte dies ohne Beteiligung deutscher Vertreter am 14. November 1918 und erklärte die Absetzung des Hauses Habsburg.
 
Unter den Auslandspolitikern der späteren Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches gelang es allein den Tschechen noch während des Krieges, als Krieg führende Partei anerkannt zu werden. Sie handelten sich damit die Berechtigung ein, als Vollmitglied an den Friedensverhandlungen in Paris teilzunehmen. Bei der Festlegung der Grenzen des von ihnen geplanten Staates konnten sie in eigener Sache mitreden und gewannen dabei die ehemaligen Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien in ihren historischen Grenzen, Oberungarn und Karpatenrussland. Im Streit mit Polen um das nordmährische Kohle- und Industrierevier von Teschen mussten sie sich 1920 auf eine Teilung entlang der Olsa einlassen. Den Anschluss der Slowaken und der Karpatoruthenen erstritten sie sich, unterstützt von den Siegermächten, mit Waffengewalt und erheblichem diplomatischem Druck auf die ungarische Räteregierung.
 
 Die Spannungen zwischen den beiden Titularnationen
 
Das Einvernehmen der Tschechen und der Slowaken gründete auf dem Gedanken des »Tschechoslowakismus«. Für das künftige Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat waren den Slowaken innere Autonomie, ein eigenes Parlament, eigene Gerichte und das Slowakische als Amtssprache zugesagt worden. Ein entsprechendes Abkommen hatte Masaryk am 30. Mai 1918 gemeinsam mit Vertretern der slowakischen Emigration im amerikanischen Pittsburgh unterzeichnet. Diese Versprechungen wurden in der Verfassung vom 29. Februar 1920 nicht eingelöst. Den maßgeblichen Verfassungsjuristen schwebte in Anlehnung an das französische Vorbild eine auf das Präsidentenamt zugeschnittene republikanische Staatsform vor. Sie begünstigte die mehrheitlich tschechische Ministerialbürokratie. Die Slowaken waren sich in der Ablehnung einer starken Zentralgewalt einig. Die unter ihnen verbreitete Unzufriedenheit mit der Prager Politik bildete den Nährboden für die populistische Agitation klerikaler Kreise, die über die Slowakische Volkspartei des katholischen Geistlichen Andrej Hlinka die Massen mobilisierten.
 
Der Verlust des österreichisch-ungarischen Binnenmarktes erforderte eine radikale Umstellung in den wirtschaftlichen Außenbeziehungen der tschechoslowakischen Industrie; neue Absatzmärkte mussten erschlossen werden. Im Gegensatz zu den anderen Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches, die als typische Agrarstaaten nur die Erträge einer rückständigen Landwirtschaft anzubieten hatten, verfügte die Tschechoslowakei über sehr viel günstigere Ausgangsbedingungen. Aus der Erbmasse des Habsburgerreiches waren ihr 75 Prozent der industriellen Ressourcen zugefallen.
 
 Die Tschechoslowakei — ein Vielvölkerstaat
 
In der Innenpolitik stellten sich schwierige Integrationsprobleme bei der Zusammenführung der einzelnen Landesteile, die ein sehr unterschiedliches Entwicklungsniveau und ein krasses west-östliches Wohlstandsgefälle aufwiesen, und bei der notwendigen Aussöhnung mit den zahlenmäßig starken Minderheiten. Diese lehnten mehrheitlich die von den Alliierten verordnete Zwangsgemeinschaft mit den Tschechen und Slowaken ab und erhoben weiter gehende Autonomieforderungen. Das politische Leben zerfiel in segmentierte nationale Teilgesellschaften, die — von den Parteien bis zu den Turn- und Gesangsvereinen — parallele eigene Organisationsformen entwickelten. Die von den Tschechen dominierte administrative Überlegenheit der Zentrale ließ den Gesamtstaatsgedanken nach Schweizer Modell immer mehr in den Hintergrund treten.
 
Die Republikgrenzen entsprachen nicht den ethnographischen Gegebenheiten. Aus strategischen und wirtschaftlichen Erwägungen ließen die Friedensmacher in Paris Abweichungen vom Prinzip des Selbstbestimmungsrechts zu. Nach der Volkszählung von 1921 lebten in der ČSR nach dem Kriterium der muttersprachlichen Zuordnung 50,82 Prozent Tschechen, 23,36 Prozent Deutsche, 14,71 Prozent Slowaken, 5,57 Prozent Magyaren, 3,45 Prozent Ruthenen, 1,35 Prozent Menschen jüdischer Herkunft (nach der Konfessionszählung 2,6 Prozent) und 0,57 Prozent Polen. Unter den Minderheiten begünstigte die Randlage der kompakten Siedlungsgebiete um den tschechischen Kernraum irredentistische Strömungen. Die Bodenreform vom 16. April 1919 zerschlug vornehmlich den fremden Großgrundbesitz und begünstigte bei der Landvergabe die armen Bauern der Staatsnation. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise waren in den Dreißigerjahren in besonderer Schärfe in den sudetendeutschen Gebieten spürbar, die überdurchschnittlich von der Arbeitslosigkeit betroffen waren. Bei der Besetzung der Beamtenposten erschwerten obligatorische Prüfungen in der Staatssprache als Einstellungsvoraussetzung ein friedliches Zusammenleben.
 
Das patriarchalische Regime Masaryks hatte ein festes Fundament in dem engeren Beraterkreis des Staatspräsidenten, der »Burg«. In den Koalitionsausschüssen aus Vertretern der großen Parteien (der pětka) wurden wichtige Abstimmungen im Parlament vorberaten und vorentschieden. Mit Antonín Švehla und Milan Hodža rückten herausragende Führer ostmitteleuropäischer Bauernparteien in verantwortliche politische Ämter ein. Sie haben als Repräsentanten der tschechischen und slowakischen Agrarier zu einer systemstabilisierenden Politik in einem rot-grünen Bündnis beigetragen. Unter den Sudetendeutschen waren nur wenige »Aktivisten« bereit, politische Verantwortung zu übernehmen. Die meisten lehnten als »Negativisten« jegliche Zusammenarbeit mit der Regierung ab.
 
 Die Sudetenkrise — Der Anfang vom Ende
 
Gegen die Revisionsforderungen der Nachbarn bot die bedingungslose Anlehnung an Frankreich und an das Bündnissystem der Kleinen Entente keine dauerhafte Sicherheit. Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland brachte die tschechoslowakische Demokratie zunehmend in Bedrängnis. Im engen Zusammenwirken mit der »Sudetendeutschen Heimatfront« des Konrad Henlein brach 1938 Hitler die »Sudetenkrise« vom Zaun und erzwang im Münchener Abkommen vom 29. September 1938 die Abtretung der deutschen Siedlungsgebiete. Damit war die Auflösung der Tschechoslowakischen Republik nicht mehr aufzuhalten. Der erste Wiener Schiedsspruch der Achsenmächte vom 2. November 1938 erkannte die ungarischen Ansprüche auf südslowakisches Territorium an. Am 1. Oktober 1938 rückten die Polen in das Olsa-Gebiet ein. Am 14. März 1939 setzte Hitler die Unabhängigkeit der Slowakei durch und erzwang die Liquidierung des Gesamtstaates. Die Ungarn besetzten Karpaten-Russland, und das tschechische Gebiet ging nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 16. März 1939 in das »Protektorat Böhmen und Mähren« auf.
 
Prof. Dr. Edgar Hösch
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Tschechoslowakei: Die Wende der Tschechen und Slowaken
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Österreich-Ungarn: Nationale Fragen in der Donaumonarchie
 
 
Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, herausgegeben von Karl Bosl. 4 Bände. Stuttgart 1967-74.
 Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart. München 31997.
 Hoensch, Jörg K.: Geschichte der Tschechoslowakei. Stuttgart u. a. 31992.
 Seibt, Ferdinand: Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas. München u. a. 31997.

Universal-Lexikon. 2012.

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